Article

Suizidhandlungen im Kindes- und Jugendalter -Therapie und Prävention

Author(s) / Creator(s)

Remschmidt, Helmut

Abstract / Description

"Wenn die Dinge so einfach sind, wie man sie uns darstellt, daß nämlich unglückliche Kindheit, Liebesentzug und Fehlentwicklung eine Einengung der Vitalsphäre bedeuten, dann müßten sich eigentlich unendlich viel mehr Menschen umbringen. Denn diese Verhältnisse gelten für eine unendlich große Anzahl von Leuten, die nicht zur Tat schreiten." Diese Diskussionsbemerkung von Jean Amery, der mit seinem Buch "Hand an sich legen - Diskurs über den Freitod" die Suizidverhütung in Frage gestellt hatte und selbst den Freitod wählte, vermittelt einen ersten Eindruck von der Komplexität der Thematik. Vielfaltig und zahlreich sind die Publikationen über Suizide und Suizidversuche, zahlreich auch die Bemühungen um die Suizidprophylaxe, dennoch bleibt die traurige Bilanz, daß wir in der Bundesrepublik Deutschland jährlich 14.000 Suizide zu beklagen haben, das sind rund 22 auf 100.000 Einwohner, eine Zahl die in etwa derjenigen der Verkehrstoten entspricht. Die Bundesrepublik ist ein Land mit relativ hoher Suizidrate, eine ihrer Städte, Berlin, hat die höchste Suizidrate der Welt. Suizide von Kindern (d.h. bis zum 14. Lebensjahr) sind aufs Ganze gesehen relativ selten. Immerhin nehmen sich laut Angaben des Statistischen Jahrbuches jährlich über 100 Kinder das Leben, wobei das Verhältnis von Jungen zu Mädchen etwa 5:1 beträgt. Im Alter von 15 bis 25 Jahren erfährt die Suizidquote einen erheblichen Anstieg. In dieser Altersgruppe finden wir jährlich rund 1.500 Suizide. Es folgt ein weiterer Gipfel jenseits des 60. Lebensjahres. Man kann davon ausgehen, daß die Zahl der Suizidversuche fünf- bis zehnmal so hoch ist wie die Zahl der gelungenen Suizide. Bezogen auf die Altersstufen der 5 bis 25jährigen bedeutet dies, daß wir in unserem Lande rund 10- bis 15.000 Suizidversuche im Kindesalter und in der Adoleszenz aufzuweisen haben. Dies ist sicher alarmierend, wenngleich nicht neu: "Der Selbstmord als Massenerscheinung und als internationale Erscheinung verlangt vom Standpunkt des Menschheitswohles aus, seine Ursachen, seine Differenzierungsmomente nach den Grundsätzen der Wissenschaft zu erforschen und die Bekämpfung dieser internationalen Selbstmordneigung mit geeigneten Mitteln anzustreben. So gut man der Tuberkulose, der Syphillis, der Krebskrankheit mit Erfolg den Kampf angesagt hat, so muß sich heute die Menschheit darauf besinnen, diese krankhafte Erscheinung am Körper der kultivierten Menschheit einer Diagnose, einer Pro phylaxe und einer durchgreifenden Heilmethode zu unterwerfen Es unterliegt nicht dem geringsten Zweifel, daß die Selbstmordneigung herabgesetzt werden kann " Diese Äußerung von Hans Rost aus dem Jahre 1932 in dem von ihm gegründeten Archiv für Erforschung und Bekämpfung des Selbstmordes ist heute so aktuell wie vor 50 Jahren. Während über vollendete Suizide einigermaßen verläßliche Angaben existieren, stößt die Ermittlung der Anzahl der Suizidversuche bei Kindern und Jugendlichen auf große Schwierigkeiten. Das Statistische Bundesamt in Wiesbaden verfügt über eine Aufstellung der Suizide für das Bundesgebiet. Unterlagen über Suizidversuche wurden bis 1965 beim Bundeskriminalamt nachgewiesen. Seit 1966 ist dies aber nicht mehr der Fall. Wenn man den 10-Jahres-Zeitraum von 1968 bis 1978 betrachtet, so ergibt sich ein leichter Anstieg der Suizidfrequenz vor allem bei männlichen Jugendlichen. Von einer alarmierenden Zunahme jugendlicher Suizide kann allerdings nicht die Rede sein. Anders sieht es bei den Suizidversuchen von Kindern und Jugendlichen aus. Hier ist eine deutliche Zunahme seit 1953 zu verzeichnen, wobei nur punktuelle Angaben vorliegen und sicherlich ein hohes Dunkelfeld besteht. So stieg die Frequenz der Suizidversuche bei Kindern und Jugendlichen bis zum 18. Lebensjahr in Hamburg seit 1953 um das Fünffache, in Schleswig-Holstein seit 1956 um das Dreifache. Im Gegensatz zu Suiziden werden Suizidversuche häufiger von Mädchen vorgenommen. In den USA und vielen anderen zivilisierten Landern stehen Suizide unter den Todesursachen bei Jugendlichen mittlerweile nach den Unfällen an zweiter bis dritter Stelle. Diese wenigen Angaben mögen genügen, um die bedrückende Aktualität des Themas zu unterstreichen.

Keyword(s)

Jugend Selbstmordverhütung Psychotherapie Familientherapie Suizidprävention Suizid Suizidversuch Psychotherapie Familientherapie Suicide Prevention Suicide Attempted Suicide Psychotherapy Family Therapy

Persistent Identifier

Date of first publication

1982

Publication status

unknown

Review status

unknown

Citation

  • Author(s) / Creator(s)
    Remschmidt, Helmut
  • PsychArchives acquisition timestamp
    2022-11-21T16:31:23Z
  • Made available on
    2011-10-31
  • Made available on
    2015-12-01T10:32:47Z
  • Made available on
    2022-11-21T16:31:23Z
  • Date of first publication
    1982
  • Abstract / Description
    "Wenn die Dinge so einfach sind, wie man sie uns darstellt, daß nämlich unglückliche Kindheit, Liebesentzug und Fehlentwicklung eine Einengung der Vitalsphäre bedeuten, dann müßten sich eigentlich unendlich viel mehr Menschen umbringen. Denn diese Verhältnisse gelten für eine unendlich große Anzahl von Leuten, die nicht zur Tat schreiten." Diese Diskussionsbemerkung von Jean Amery, der mit seinem Buch "Hand an sich legen - Diskurs über den Freitod" die Suizidverhütung in Frage gestellt hatte und selbst den Freitod wählte, vermittelt einen ersten Eindruck von der Komplexität der Thematik. Vielfaltig und zahlreich sind die Publikationen über Suizide und Suizidversuche, zahlreich auch die Bemühungen um die Suizidprophylaxe, dennoch bleibt die traurige Bilanz, daß wir in der Bundesrepublik Deutschland jährlich 14.000 Suizide zu beklagen haben, das sind rund 22 auf 100.000 Einwohner, eine Zahl die in etwa derjenigen der Verkehrstoten entspricht. Die Bundesrepublik ist ein Land mit relativ hoher Suizidrate, eine ihrer Städte, Berlin, hat die höchste Suizidrate der Welt. Suizide von Kindern (d.h. bis zum 14. Lebensjahr) sind aufs Ganze gesehen relativ selten. Immerhin nehmen sich laut Angaben des Statistischen Jahrbuches jährlich über 100 Kinder das Leben, wobei das Verhältnis von Jungen zu Mädchen etwa 5:1 beträgt. Im Alter von 15 bis 25 Jahren erfährt die Suizidquote einen erheblichen Anstieg. In dieser Altersgruppe finden wir jährlich rund 1.500 Suizide. Es folgt ein weiterer Gipfel jenseits des 60. Lebensjahres. Man kann davon ausgehen, daß die Zahl der Suizidversuche fünf- bis zehnmal so hoch ist wie die Zahl der gelungenen Suizide. Bezogen auf die Altersstufen der 5 bis 25jährigen bedeutet dies, daß wir in unserem Lande rund 10- bis 15.000 Suizidversuche im Kindesalter und in der Adoleszenz aufzuweisen haben. Dies ist sicher alarmierend, wenngleich nicht neu: "Der Selbstmord als Massenerscheinung und als internationale Erscheinung verlangt vom Standpunkt des Menschheitswohles aus, seine Ursachen, seine Differenzierungsmomente nach den Grundsätzen der Wissenschaft zu erforschen und die Bekämpfung dieser internationalen Selbstmordneigung mit geeigneten Mitteln anzustreben. So gut man der Tuberkulose, der Syphillis, der Krebskrankheit mit Erfolg den Kampf angesagt hat, so muß sich heute die Menschheit darauf besinnen, diese krankhafte Erscheinung am Körper der kultivierten Menschheit einer Diagnose, einer Pro phylaxe und einer durchgreifenden Heilmethode zu unterwerfen Es unterliegt nicht dem geringsten Zweifel, daß die Selbstmordneigung herabgesetzt werden kann " Diese Äußerung von Hans Rost aus dem Jahre 1932 in dem von ihm gegründeten Archiv für Erforschung und Bekämpfung des Selbstmordes ist heute so aktuell wie vor 50 Jahren. Während über vollendete Suizide einigermaßen verläßliche Angaben existieren, stößt die Ermittlung der Anzahl der Suizidversuche bei Kindern und Jugendlichen auf große Schwierigkeiten. Das Statistische Bundesamt in Wiesbaden verfügt über eine Aufstellung der Suizide für das Bundesgebiet. Unterlagen über Suizidversuche wurden bis 1965 beim Bundeskriminalamt nachgewiesen. Seit 1966 ist dies aber nicht mehr der Fall. Wenn man den 10-Jahres-Zeitraum von 1968 bis 1978 betrachtet, so ergibt sich ein leichter Anstieg der Suizidfrequenz vor allem bei männlichen Jugendlichen. Von einer alarmierenden Zunahme jugendlicher Suizide kann allerdings nicht die Rede sein. Anders sieht es bei den Suizidversuchen von Kindern und Jugendlichen aus. Hier ist eine deutliche Zunahme seit 1953 zu verzeichnen, wobei nur punktuelle Angaben vorliegen und sicherlich ein hohes Dunkelfeld besteht. So stieg die Frequenz der Suizidversuche bei Kindern und Jugendlichen bis zum 18. Lebensjahr in Hamburg seit 1953 um das Fünffache, in Schleswig-Holstein seit 1956 um das Dreifache. Im Gegensatz zu Suiziden werden Suizidversuche häufiger von Mädchen vorgenommen. In den USA und vielen anderen zivilisierten Landern stehen Suizide unter den Todesursachen bei Jugendlichen mittlerweile nach den Unfällen an zweiter bis dritter Stelle. Diese wenigen Angaben mögen genügen, um die bedrückende Aktualität des Themas zu unterstreichen.
    de
  • Publication status
    unknown
  • Review status
    unknown
  • ISSN
    0032-7034
  • Persistent Identifier
    https://nbn-resolving.de/urn/resolver.pl?urn:nbn:de:bsz:291-psydok-28915
  • Persistent Identifier
    https://hdl.handle.net/20.500.11780/1513
  • Persistent Identifier
    https://doi.org/10.23668/psycharchives.10606
  • Language of content
    deu
  • Is part of
    Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie. - 31. 1982, 2, S. 35-40
  • Keyword(s)
    Jugend
    de
  • Keyword(s)
    Selbstmordverhütung
    de
  • Keyword(s)
    Psychotherapie
    de
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    Familientherapie
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    Suizidprävention
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    Suizid
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    Suizidversuch
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    Psychotherapie
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    Familientherapie
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  • Keyword(s)
    Suicide Prevention
    en
  • Keyword(s)
    Suicide
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  • Keyword(s)
    Attempted Suicide
    en
  • Keyword(s)
    Psychotherapy
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  • Keyword(s)
    Family Therapy
    en
  • Dewey Decimal Classification number(s)
    150
  • Title
    Suizidhandlungen im Kindes- und Jugendalter -Therapie und Prävention
    de
  • DRO type
    article
  • Visible tag(s)
    PsyDok
  • Visible tag(s)
    Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie