Report

Westliche Psychologie gegen Jugendgewalt weltweit : Plädoyer für eine kultursensitive Anwendung

Author(s) / Creator(s)

Büttner, Christian
Koschate, Miriam

Abstract / Description

Der kulturelle Kontext westlicher Industriegesellschaften diente lange Jahre stillschweigend als Voraussetzung nicht nur für die Hypothesenbildung und die Anlage der empirischen Forschungen zur Gewalt bei Kindern und Jugendlichen, er bildet im Allgemeinen auch die gedankliche Basis für die Konzeptionierung von Projekten zur Jugendhilfe in Ländern, denen Entwicklungszusammenarbeit angeboten wird. Diese Konzeptionierung und die praktischen Vorschläge für die Unterstützung Jugendlicher aus westeuropäischen Regionen wie auch Jugendlicher in Entwicklungsländern waren und sind von impliziten Annahmen eines westlichen Konzeptes "Kindheit" und "Jugend" getragen. Inzwischen hat sich jedoch herumgesprochen, dass Probleme in menschlichen Beziehungen kontextabhängig sind und auf Unterschiede in den geographischen Voraussetzungen und der historischen Entwicklung der jeweiligen sozialen Gemeinschaften zurückgehen. Die entwicklungs- und sozialpsychologischen Überlegungen zu Kindheit und Jugend aus den westlichen Industrieländern sind deshalb nicht ohne weiteres auf Verhältnisse auf Länder und Kulturen übertragbar, in denen es diese Lebensphasen gemäß der westlichen Definition gar nicht gibt oder in der sie anders in den kulturellen Kontext eingebunden sind als in den Industrieländern. Und auch die Sozialwissenschaften, hier insbesondere die Psychologie, sind in einem langen wissenschaftsgeschichtlichen und spezifisch abendländischen Prozess entstanden. Pädagogen, die in Jugendprojekten der Entwicklungszusammenarbeit oder der Friedensinitiativen arbeiten und deren Herkunft von den Bildungsinhalten westlich- wissenschaftlicher Konzepte geprägt ist, haben die Wurzeln dieser Denkweisen gewissermaßen mit der Muttermilch aufgenommen. Im Laufe der beruflichen Sozialisation haben sie nicht nur ein Werte- und Normensystem hervorgebracht oder begründet, sie sind auch Ursache des Verhältnisses verschiedener Professionen zueinander (z.B. des Verhältnisses von Psychologen zu Therapeuten, Pädagogen, Sozialarbeitern oder Konfliktschlichtern). Sich davon zu distanzieren erfordert ein Verständnis professioneller und interkultureller Arbeit, das die eigene Person eher als randständig lokalisiert, statt die eigenen (impliziten) Ideen als Mittelpunkt allen Denkens, Handelns und Entwerfens pädagogischpsychologischer Strategien zu begreifen. Am deutlichsten — so zahlreiche Erfahrungen mit der Auseinandersetzung um kulturelle Kontexte — ist der ethnozentrische Anteil am Fühlen, Denken und Handeln in der Fremde zu spüren, dort nämlich entbehrt dieser Anteil des Rückhaltes, der normalerweise im eigenen Kulturkontext gegeben ist. Sich in eine Randposition zu begeben ist deshalb ausgesprochen viel verlangt, weil darin enthalten ist, die eigene Professionalität zurück zu stellen, zunächst selbst zu lernen und Erfahrungen — auch über die Begrenztheit der professionellen Identität aus der eigenen Herkunft — zu sammeln. In diesem Sinne scheint in der psychologischen Entwicklungszusammenarbeit ein Weg vielversprechend zu sein, den einheimischen Pädagogen den Rahmen für Trainings zum Umgang mit Gewalt zur Verfügung zu stellen, damit sie darin ihre eigenen Zugänge entwickeln können. Folgende Empfehlungen lassen sich aus der Problemsicht von Entwicklungshelfern, Friedensinitiativen und exemplarischen Interviews mit GTZ-Mitarbeitern geben: - Psychologische Konzepte nach dem Muster westlicher Industrienationen sollten bei Mitarbeitern von Organisationen aus Industrieländern als diejenige Grundlage wahrgenommen und verstanden werden, die für die Verhältnisse der eigenen Herkunft erforscht, erdacht und überprüft wurden. - In der Begegnung mit Einheimischen sollte vor dem Hintergrund dieser Haltung eine Begegnungskompetenz entwickelt und gefördert werden, die nach den Konzepten von Jugend in den jeweiligen Ländern fragt. Für eine derartige Annäherung könnten die Mitarbeiter bestenfalls den Rahmen bereitstellen, in dem ein Dialog darüber etabliert werden kann. - Die Auseinandersetzung mit den fremden Erfahrungen von Jugend, Gewalt und Entwicklung sollte in die Frage münden, wo die Konzepte kompatibel und wo sie unvereinbar sind. - Schließlich sollte die Fähigkeit gefördert werden, mit fremden Menschen Strategien für die Projekte zu entwickeln, die gemeinsam durchgeführt werden können. Es geht letzten Endes darum, wie der Druck, die wechselseitige Fremdheit zum Verschwinden zu bringen, in einen Respekt vor Andersartigkeit transformiert werden kann, der es dem einzelnen Mitarbeiter ermöglicht, bei den Jugendlichen als Fremder und als "Professioneller" geachtet zu werden. Kein Land kann darüber hinweg sehen, dass die globale Entwicklung die Menschen aller Länder und Kulturen im Laufe der Geschichte näher zusammengebracht hat und weiter zusammenbringen wird. Das bedeutet auch eine immer stärkere interkulturelle Konfrontation, von der nach wie vor unklar zu sein scheint, ob sie zu dem "Kampf der Kulturen" führen wird, oder ob in ihr die Chance eines friedlichen Nebeneinander in wechselseitiger Befruchtung liegt. Was die westliche Psychologie und Erziehungswissenschaft zu dem friedlichen Nebeneinander beitragen kann, liegt sicher nicht darin begründet, die "Segnungen" psychologischer Forschung als "sanfte Kolonialisierung" zu exportieren. Vielmehr müsste es darum gehen, die Gratwanderung der Auseinandersetzung mit dem, was man nun einmal an Wissen hat und verbreiten möchte, und dem, was in den fremden Verhältnissen gebraucht wird, zu beginnen. Hinzukommen müssen allerdings weitere interdisziplinäre Anstrengungen, die Vorbehalte praktischer Pädagogen gegen akademische Konzepte fremder Disziplinen zu überwinden. Dazu wäre aber ein Dialog vonnöten, der vor dem Einsatz engagierter Pädagogen oder wenigstens parallel dazu die Kommunikation ermöglicht, in der mit diesen Verschiedenheiten auf die Entwicklung der Konzepte hingearbeitet werden kann.

Keyword(s)

Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung Konflikt Konfliktbewältigung Jugend Jugendgewalt

Persistent Identifier

Date of first publication

2003

Citation

  • Author(s) / Creator(s)
    Büttner, Christian
  • Author(s) / Creator(s)
    Koschate, Miriam
  • PsychArchives acquisition timestamp
    2022-11-17T11:04:06Z
  • Made available on
    2003-11-07
  • Made available on
    2015-12-01T10:32:30Z
  • Made available on
    2022-11-17T11:04:06Z
  • Date of first publication
    2003
  • Abstract / Description
    Der kulturelle Kontext westlicher Industriegesellschaften diente lange Jahre stillschweigend als Voraussetzung nicht nur für die Hypothesenbildung und die Anlage der empirischen Forschungen zur Gewalt bei Kindern und Jugendlichen, er bildet im Allgemeinen auch die gedankliche Basis für die Konzeptionierung von Projekten zur Jugendhilfe in Ländern, denen Entwicklungszusammenarbeit angeboten wird. Diese Konzeptionierung und die praktischen Vorschläge für die Unterstützung Jugendlicher aus westeuropäischen Regionen wie auch Jugendlicher in Entwicklungsländern waren und sind von impliziten Annahmen eines westlichen Konzeptes "Kindheit" und "Jugend" getragen. Inzwischen hat sich jedoch herumgesprochen, dass Probleme in menschlichen Beziehungen kontextabhängig sind und auf Unterschiede in den geographischen Voraussetzungen und der historischen Entwicklung der jeweiligen sozialen Gemeinschaften zurückgehen. Die entwicklungs- und sozialpsychologischen Überlegungen zu Kindheit und Jugend aus den westlichen Industrieländern sind deshalb nicht ohne weiteres auf Verhältnisse auf Länder und Kulturen übertragbar, in denen es diese Lebensphasen gemäß der westlichen Definition gar nicht gibt oder in der sie anders in den kulturellen Kontext eingebunden sind als in den Industrieländern. Und auch die Sozialwissenschaften, hier insbesondere die Psychologie, sind in einem langen wissenschaftsgeschichtlichen und spezifisch abendländischen Prozess entstanden. Pädagogen, die in Jugendprojekten der Entwicklungszusammenarbeit oder der Friedensinitiativen arbeiten und deren Herkunft von den Bildungsinhalten westlich- wissenschaftlicher Konzepte geprägt ist, haben die Wurzeln dieser Denkweisen gewissermaßen mit der Muttermilch aufgenommen. Im Laufe der beruflichen Sozialisation haben sie nicht nur ein Werte- und Normensystem hervorgebracht oder begründet, sie sind auch Ursache des Verhältnisses verschiedener Professionen zueinander (z.B. des Verhältnisses von Psychologen zu Therapeuten, Pädagogen, Sozialarbeitern oder Konfliktschlichtern). Sich davon zu distanzieren erfordert ein Verständnis professioneller und interkultureller Arbeit, das die eigene Person eher als randständig lokalisiert, statt die eigenen (impliziten) Ideen als Mittelpunkt allen Denkens, Handelns und Entwerfens pädagogischpsychologischer Strategien zu begreifen. Am deutlichsten — so zahlreiche Erfahrungen mit der Auseinandersetzung um kulturelle Kontexte — ist der ethnozentrische Anteil am Fühlen, Denken und Handeln in der Fremde zu spüren, dort nämlich entbehrt dieser Anteil des Rückhaltes, der normalerweise im eigenen Kulturkontext gegeben ist. Sich in eine Randposition zu begeben ist deshalb ausgesprochen viel verlangt, weil darin enthalten ist, die eigene Professionalität zurück zu stellen, zunächst selbst zu lernen und Erfahrungen — auch über die Begrenztheit der professionellen Identität aus der eigenen Herkunft — zu sammeln. In diesem Sinne scheint in der psychologischen Entwicklungszusammenarbeit ein Weg vielversprechend zu sein, den einheimischen Pädagogen den Rahmen für Trainings zum Umgang mit Gewalt zur Verfügung zu stellen, damit sie darin ihre eigenen Zugänge entwickeln können. Folgende Empfehlungen lassen sich aus der Problemsicht von Entwicklungshelfern, Friedensinitiativen und exemplarischen Interviews mit GTZ-Mitarbeitern geben: - Psychologische Konzepte nach dem Muster westlicher Industrienationen sollten bei Mitarbeitern von Organisationen aus Industrieländern als diejenige Grundlage wahrgenommen und verstanden werden, die für die Verhältnisse der eigenen Herkunft erforscht, erdacht und überprüft wurden. - In der Begegnung mit Einheimischen sollte vor dem Hintergrund dieser Haltung eine Begegnungskompetenz entwickelt und gefördert werden, die nach den Konzepten von Jugend in den jeweiligen Ländern fragt. Für eine derartige Annäherung könnten die Mitarbeiter bestenfalls den Rahmen bereitstellen, in dem ein Dialog darüber etabliert werden kann. - Die Auseinandersetzung mit den fremden Erfahrungen von Jugend, Gewalt und Entwicklung sollte in die Frage münden, wo die Konzepte kompatibel und wo sie unvereinbar sind. - Schließlich sollte die Fähigkeit gefördert werden, mit fremden Menschen Strategien für die Projekte zu entwickeln, die gemeinsam durchgeführt werden können. Es geht letzten Endes darum, wie der Druck, die wechselseitige Fremdheit zum Verschwinden zu bringen, in einen Respekt vor Andersartigkeit transformiert werden kann, der es dem einzelnen Mitarbeiter ermöglicht, bei den Jugendlichen als Fremder und als "Professioneller" geachtet zu werden. Kein Land kann darüber hinweg sehen, dass die globale Entwicklung die Menschen aller Länder und Kulturen im Laufe der Geschichte näher zusammengebracht hat und weiter zusammenbringen wird. Das bedeutet auch eine immer stärkere interkulturelle Konfrontation, von der nach wie vor unklar zu sein scheint, ob sie zu dem "Kampf der Kulturen" führen wird, oder ob in ihr die Chance eines friedlichen Nebeneinander in wechselseitiger Befruchtung liegt. Was die westliche Psychologie und Erziehungswissenschaft zu dem friedlichen Nebeneinander beitragen kann, liegt sicher nicht darin begründet, die "Segnungen" psychologischer Forschung als "sanfte Kolonialisierung" zu exportieren. Vielmehr müsste es darum gehen, die Gratwanderung der Auseinandersetzung mit dem, was man nun einmal an Wissen hat und verbreiten möchte, und dem, was in den fremden Verhältnissen gebraucht wird, zu beginnen. Hinzukommen müssen allerdings weitere interdisziplinäre Anstrengungen, die Vorbehalte praktischer Pädagogen gegen akademische Konzepte fremder Disziplinen zu überwinden. Dazu wäre aber ein Dialog vonnöten, der vor dem Einsatz engagierter Pädagogen oder wenigstens parallel dazu die Kommunikation ermöglicht, in der mit diesen Verschiedenheiten auf die Entwicklung der Konzepte hingearbeitet werden kann.
    de
  • Persistent Identifier
    https://nbn-resolving.de/urn/resolver.pl?urn:nbn:de:bsz:291-psydok-425
  • Persistent Identifier
    https://hdl.handle.net/20.500.11780/1310
  • Persistent Identifier
    https://doi.org/10.23668/psycharchives.9024
  • Language of content
    deu
  • Is part of
    Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung, HSFK-REPORT 5/2003, ISBN 3-933293-78-2
  • Keyword(s)
    Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung
    de
  • Keyword(s)
    Konflikt
    de
  • Keyword(s)
    Konfliktbewältigung
    de
  • Keyword(s)
    Jugend
    de
  • Keyword(s)
    Jugendgewalt
    de
  • Dewey Decimal Classification number(s)
    150
  • Title
    Westliche Psychologie gegen Jugendgewalt weltweit : Plädoyer für eine kultursensitive Anwendung
    de
  • DRO type
    report
  • Visible tag(s)
    PsyDok