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Wilhelm Wundt — Pionier der Psychologie und Außenseiter? Leitgedanken der Wissenschaftskonzeption und deren Rezeptionsgeschichte

Wilhelm Wundt — Pioneer in Psychology and Outsider?

Author(s) / Creator(s)

Fahrenberg, Jochen

Abstract / Description

Wilhelm Wundt (1832 — 1920), Physiologe, Psychologe und Philosoph, gilt allgemein als Pionier der experimentellen Psychologie, denn er gründete das erste Labor mit einem systematischen Forschungsprogramm für Psychologie. Wundts Grundriss der physiologischen Psychologie (1874) ist ein Meilenstein der wissenschaftlichen Psychologie. Leipzig wurde zu einer berühmten Adresse und zog zahlreiche Studenten aus vielen Ländern an. Nach der Jahrhundertwende nahm jedoch Wundts Einfluss rasch ab, und heute werden seine wesentlichen Beiträge zur Psychologie, die auch seine gründliche Methodenlehre und originelle Wissenschaftstheorie der Psychologie umfassen, nur noch selten zitiert oder adäquat referiert. Die letzte Biographie, die Wundts Psychologie und Philosophie darstellt, stammt von Eisler (1902). Die spannende Frage ist: Weshalb wurde der Gründervater Wundt fast zum Außenseiter? Die vorliegende Untersuchung hat zwei Ziele: Erstens, eine Analyse der Rezeption von Wundts Werk aufgrund der Rezensionen, Lehrbücher und anderen Referenzen, beispielsweise der Festschrift, der Nachrufe, und bibliometrischer Daten, vorzunehmen; zweitens, eine Reihe von Hypothesen abzuleiten, weshalb Wundt bereits zu seinen Lebzeiten rasch// viel von seinem früheren Einfluss verlor. Zur Vorbereitung dieser Rezeptionsanalyse erwies es sich als notwendig, die Leitgedanken von Wundts Psychologie und Philosophie hervorzuheben, um inhaltsanalytisch feststellen zu können, ob diese Ideen in einer bestimmten Rezension oder einem bestimmten Lehrbuch repräsentiert waren. Außerdem wurde der Versuch einer Rekonstruktion von Wundts Methodenlehre und seiner Wissenschaftstheorie der Psychologie — der ersten überhaupt — versucht. Wundts Methodenlehre und Wissenschaftstheorie erfordern die Fähigkeit und die Bereitschaft, verschiedene Standpunkte und Betrachtungsweisen einzunehmen, d.h. ein multi-referentielles Bezugssystem. Dieser Kontext ist wichtig, wenn wir Wundts methodologische Prinzipien verstehen wollen, seine zunehmend kritische Beurteilung von Experiment und Messung in der Psychologie, seine grundsätzlichen Zweifel an naiver Selbstbeobachtung und subjektiven Berichten, und andererseits seine herausragende Methodenlehre der psychologischen Interpretation. Aus diesem Verständnis folgt es, die Psychologie als eine empirische — und nur teilweise experimentelle — Geisteswissenschaft zu definieren. Die Untersuchung stützt sich auf die Analyse von Zitaten und Inhalten. Ausgewertet wurden 75 Rezensionen in Zeitschriften seit 1858, etwa 50 Beiträge zu bestimmten fachlichen Kontroversen, sowie Hinweise auf Wundts Werk in etwa 50 deutschen Lehrbüchern der Allgemeinen Psychologie, Psychologiegeschichte und Wissenschaftstheorie der Psychologie von 1883 bis heute. Anhand der Ergebnisse wurden Hypothesen entwickelt, um den markanten Verlust von Wundts Einfluss zu interpretieren. Offensichtlich bilden der immense Umfang und der anspruchsvolle akademische Stil erhebliche Hürden beim Zugang zu Wundts Denken. Außerdem publizierte er nie eine zusammenhängende Darstellung seiner methodologischen und wissenschaftstheoretischen Prinzipien in einem auch für den Unterricht geeigneten Kompendium. Daneben sind jedoch andere wichtige Aspekte zu bedenken. So ergab die Rezeptionsanalyse, dass Wundts Leipziger Mitarbeitern und Schülern wenig daran lag, dessen Leitgedanken zu zitieren, zu erläutern, zu lehren und weiterzuführen. Die meisten Psychologen in der nächsten Generation scheinen eine wesentlich einfachere, philosophisch weniger komplizierte Position vorgezogen haben, statt sich auf multiple Bezugssysteme einzulassen, die konsequenterweise auch ein multimethodisches Vorgehen verlangen würden. Die Mehrheit der späteren Lehrbuch-Autoren bevorzugte einen scheinbar gradlinigen Ansatz, d.h. entweder eine naturwissenschaftlicher oder eine geisteswissenschaftliche Forschungsorientierung. Wundts anspruchsvolle Perspektivität und Methodenkombination entsprachen offensichtlich nicht der allgemeinen Auffassung.
Having established the first laboratory specifically devoted to a systematic program of research in psychology, Wilhelm Wundt (1832 — 1920), the physiologist, psychologist, and philosopher, is generally acknowledged as the founder of experimental psychology. Wundt's Grundriss der physiologischen Psychologie (1874) marks a milestone in scientific psychology. His laboratory in Leipzig was a famous address attracting numerous students from many countries. But Wundt's influence declined sharply at the turn of the century. Today, his essential contributions to psychology, including his comprehensive methodology and original philosophy of science, are rarely cited or referred to appropriately. The last biography of his psychology and philosophy was published by Eisler in 1902. The intriguing question is still unanswered: Why was Wundt, the pioneer, treated more or less as an outsider? The present investigation has to aims: Firstly, to conduct an impact analysis of Wundt's work based on reviews, textbooks and other references drawn for example from the Festschrift, the Obituaries, and bibliometric data. Second, to develop a number of hypotheses as to why Wundt swiftly lost much of his earlier influence long before his death. In preparing this impact analysis it was necessary to clearly define the main features of Wundt's psychology and philosophy as a basis for a content analysis and evaluation of whether his Leitgedanken were represented in a particular review or textbook. A re-construction of Wundt's methodology and his epistemology, that is, his theory of science in psychology, was undertaken — the first of its kind. Wundt's methodology and epistemology require the ability and inclination to adopt different but complementary perspectives, that is, in a multi-referential framework. This context is important if we wish to understand Wundt's methodological principles, his growing critical evaluation of experimental methods and measurement in psychology, his grave doubts about naive self-observation and subjective reports, and, on the other hand, his outstanding methodology of psychological interpretation. From this follows the notion of empirical psychology as a — partly experimental — Geisteswissenschaft. This investigation is primarily based on citation and content analyses, the material for which was drawn from 75 reviews in Journals from 1858 onwards, around 50 contributions to particular Controversies, and references to Wundt's work in about 50 German Textbooks on General Psychology, Methodology and History of Psychology from 1883 to the present. The findings were used to develop a set of hypotheses to explain the remarkable decline in the impact of Wundt's work. It is readily apparent that the scope of Wundt's immense work and the academic style of his books presented the reader with considerable difficulty in following his thoughts. Further to this, he did not publish a comprehensive exposition of his methodological and epistemological principles in the form of a concise textbook suitable for teaching. But other essential aspects have to be considered and evaluated. The citation analysis revealed that Wundt's students and co-workers in Leipzig were obviously disinclined to cite, elucidate further, teach and extend Wundt's basic ideas. Rather than embracing the notion of multiple frames of reference and the use of multi-method strategies that this requires, the larger part of the following generation of psychologists appears to have favoured the adoption of a much simpler, philosophically less complicated position. The majority of later textbook authors preferred a seemingly straightforward approach, that is, either a naturwissenschaftliche or a geisteswissenschaftliche research orientation. Wundt's determined and ambitious perspectivism and methodology was clearly inconsistent with this generally accepted view.

Keyword(s)

Wilhelm Wundt Historische Psychologie Wissenschaftstheorie Rezeption Rezeptionsforschung Literaturauswertung Wilhelm Wundt History of Psychology Philosophy of Science Reception Impact Analysis Citation Analysis

Persistent Identifier

Date of first publication

2011

Citation

  • Author(s) / Creator(s)
    Fahrenberg, Jochen
  • PsychArchives acquisition timestamp
    2022-11-21T14:26:56Z
  • Made available on
    2011-11-15
  • Made available on
    2015-12-01T10:30:52Z
  • Made available on
    2022-11-21T14:26:56Z
  • Date of first publication
    2011
  • Abstract / Description
    Wilhelm Wundt (1832 — 1920), Physiologe, Psychologe und Philosoph, gilt allgemein als Pionier der experimentellen Psychologie, denn er gründete das erste Labor mit einem systematischen Forschungsprogramm für Psychologie. Wundts Grundriss der physiologischen Psychologie (1874) ist ein Meilenstein der wissenschaftlichen Psychologie. Leipzig wurde zu einer berühmten Adresse und zog zahlreiche Studenten aus vielen Ländern an. Nach der Jahrhundertwende nahm jedoch Wundts Einfluss rasch ab, und heute werden seine wesentlichen Beiträge zur Psychologie, die auch seine gründliche Methodenlehre und originelle Wissenschaftstheorie der Psychologie umfassen, nur noch selten zitiert oder adäquat referiert. Die letzte Biographie, die Wundts Psychologie und Philosophie darstellt, stammt von Eisler (1902). Die spannende Frage ist: Weshalb wurde der Gründervater Wundt fast zum Außenseiter? Die vorliegende Untersuchung hat zwei Ziele: Erstens, eine Analyse der Rezeption von Wundts Werk aufgrund der Rezensionen, Lehrbücher und anderen Referenzen, beispielsweise der Festschrift, der Nachrufe, und bibliometrischer Daten, vorzunehmen; zweitens, eine Reihe von Hypothesen abzuleiten, weshalb Wundt bereits zu seinen Lebzeiten rasch// viel von seinem früheren Einfluss verlor. Zur Vorbereitung dieser Rezeptionsanalyse erwies es sich als notwendig, die Leitgedanken von Wundts Psychologie und Philosophie hervorzuheben, um inhaltsanalytisch feststellen zu können, ob diese Ideen in einer bestimmten Rezension oder einem bestimmten Lehrbuch repräsentiert waren. Außerdem wurde der Versuch einer Rekonstruktion von Wundts Methodenlehre und seiner Wissenschaftstheorie der Psychologie — der ersten überhaupt — versucht. Wundts Methodenlehre und Wissenschaftstheorie erfordern die Fähigkeit und die Bereitschaft, verschiedene Standpunkte und Betrachtungsweisen einzunehmen, d.h. ein multi-referentielles Bezugssystem. Dieser Kontext ist wichtig, wenn wir Wundts methodologische Prinzipien verstehen wollen, seine zunehmend kritische Beurteilung von Experiment und Messung in der Psychologie, seine grundsätzlichen Zweifel an naiver Selbstbeobachtung und subjektiven Berichten, und andererseits seine herausragende Methodenlehre der psychologischen Interpretation. Aus diesem Verständnis folgt es, die Psychologie als eine empirische — und nur teilweise experimentelle — Geisteswissenschaft zu definieren. Die Untersuchung stützt sich auf die Analyse von Zitaten und Inhalten. Ausgewertet wurden 75 Rezensionen in Zeitschriften seit 1858, etwa 50 Beiträge zu bestimmten fachlichen Kontroversen, sowie Hinweise auf Wundts Werk in etwa 50 deutschen Lehrbüchern der Allgemeinen Psychologie, Psychologiegeschichte und Wissenschaftstheorie der Psychologie von 1883 bis heute. Anhand der Ergebnisse wurden Hypothesen entwickelt, um den markanten Verlust von Wundts Einfluss zu interpretieren. Offensichtlich bilden der immense Umfang und der anspruchsvolle akademische Stil erhebliche Hürden beim Zugang zu Wundts Denken. Außerdem publizierte er nie eine zusammenhängende Darstellung seiner methodologischen und wissenschaftstheoretischen Prinzipien in einem auch für den Unterricht geeigneten Kompendium. Daneben sind jedoch andere wichtige Aspekte zu bedenken. So ergab die Rezeptionsanalyse, dass Wundts Leipziger Mitarbeitern und Schülern wenig daran lag, dessen Leitgedanken zu zitieren, zu erläutern, zu lehren und weiterzuführen. Die meisten Psychologen in der nächsten Generation scheinen eine wesentlich einfachere, philosophisch weniger komplizierte Position vorgezogen haben, statt sich auf multiple Bezugssysteme einzulassen, die konsequenterweise auch ein multimethodisches Vorgehen verlangen würden. Die Mehrheit der späteren Lehrbuch-Autoren bevorzugte einen scheinbar gradlinigen Ansatz, d.h. entweder eine naturwissenschaftlicher oder eine geisteswissenschaftliche Forschungsorientierung. Wundts anspruchsvolle Perspektivität und Methodenkombination entsprachen offensichtlich nicht der allgemeinen Auffassung.
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  • Abstract / Description
    Having established the first laboratory specifically devoted to a systematic program of research in psychology, Wilhelm Wundt (1832 — 1920), the physiologist, psychologist, and philosopher, is generally acknowledged as the founder of experimental psychology. Wundt's Grundriss der physiologischen Psychologie (1874) marks a milestone in scientific psychology. His laboratory in Leipzig was a famous address attracting numerous students from many countries. But Wundt's influence declined sharply at the turn of the century. Today, his essential contributions to psychology, including his comprehensive methodology and original philosophy of science, are rarely cited or referred to appropriately. The last biography of his psychology and philosophy was published by Eisler in 1902. The intriguing question is still unanswered: Why was Wundt, the pioneer, treated more or less as an outsider? The present investigation has to aims: Firstly, to conduct an impact analysis of Wundt's work based on reviews, textbooks and other references drawn for example from the Festschrift, the Obituaries, and bibliometric data. Second, to develop a number of hypotheses as to why Wundt swiftly lost much of his earlier influence long before his death. In preparing this impact analysis it was necessary to clearly define the main features of Wundt's psychology and philosophy as a basis for a content analysis and evaluation of whether his Leitgedanken were represented in a particular review or textbook. A re-construction of Wundt's methodology and his epistemology, that is, his theory of science in psychology, was undertaken — the first of its kind. Wundt's methodology and epistemology require the ability and inclination to adopt different but complementary perspectives, that is, in a multi-referential framework. This context is important if we wish to understand Wundt's methodological principles, his growing critical evaluation of experimental methods and measurement in psychology, his grave doubts about naive self-observation and subjective reports, and, on the other hand, his outstanding methodology of psychological interpretation. From this follows the notion of empirical psychology as a — partly experimental — Geisteswissenschaft. This investigation is primarily based on citation and content analyses, the material for which was drawn from 75 reviews in Journals from 1858 onwards, around 50 contributions to particular Controversies, and references to Wundt's work in about 50 German Textbooks on General Psychology, Methodology and History of Psychology from 1883 to the present. The findings were used to develop a set of hypotheses to explain the remarkable decline in the impact of Wundt's work. It is readily apparent that the scope of Wundt's immense work and the academic style of his books presented the reader with considerable difficulty in following his thoughts. Further to this, he did not publish a comprehensive exposition of his methodological and epistemological principles in the form of a concise textbook suitable for teaching. But other essential aspects have to be considered and evaluated. The citation analysis revealed that Wundt's students and co-workers in Leipzig were obviously disinclined to cite, elucidate further, teach and extend Wundt's basic ideas. Rather than embracing the notion of multiple frames of reference and the use of multi-method strategies that this requires, the larger part of the following generation of psychologists appears to have favoured the adoption of a much simpler, philosophically less complicated position. The majority of later textbook authors preferred a seemingly straightforward approach, that is, either a naturwissenschaftliche or a geisteswissenschaftliche research orientation. Wundt's determined and ambitious perspectivism and methodology was clearly inconsistent with this generally accepted view.
    en
  • Publication status
    unknown
  • Review status
    unknown
  • Persistent Identifier
    https://nbn-resolving.de/urn/resolver.pl?urn:nbn:de:bsz:291-psydok-29016
  • Persistent Identifier
    https://hdl.handle.net/20.500.11780/662
  • Persistent Identifier
    https://doi.org/10.23668/psycharchives.10417
  • Language of content
    deu
  • Keyword(s)
    Wilhelm Wundt
    de
  • Keyword(s)
    Historische Psychologie
    de
  • Keyword(s)
    Wissenschaftstheorie
    de
  • Keyword(s)
    Rezeption
    de
  • Keyword(s)
    Rezeptionsforschung
    de
  • Keyword(s)
    Literaturauswertung
    de
  • Keyword(s)
    Wilhelm Wundt
    en
  • Keyword(s)
    History of Psychology
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    Philosophy of Science
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  • Keyword(s)
    Reception
    en
  • Keyword(s)
    Impact Analysis
    en
  • Keyword(s)
    Citation Analysis
    en
  • Dewey Decimal Classification number(s)
    150
  • Title
    Wilhelm Wundt — Pionier der Psychologie und Außenseiter? Leitgedanken der Wissenschaftskonzeption und deren Rezeptionsgeschichte
    de
  • Alternative title
    Wilhelm Wundt — Pioneer in Psychology and Outsider?
    en
  • DRO type
    book
  • Visible tag(s)
    PsyDok